21-03-06 Offener Brief und Wahlaufruf von Lutz Bernschein
Vor kurzem erreichte uns ein offener Brief von Lutz Bernschein, ehemaliges Magistratsmitglied in Hungen und langjähriger Kommunalpolitiker. Er schildert seine persönlichen Erfahrungen mit der Hungener Politik und die Gründe, wieso er von allen Ämtern zurückgetreten ist und sich aus der aktiven Politik zurückgezogen hat. Nun hofft er auf einen Politikwechsel in seiner Heimat, denn ein "weiter so" darf es seiner Meinung nach nicht geben. Dies verbindet er mit einer Bitte an alle Hungener Wahlberechtigten: Gehen Sie wählen!
Offener Brief vom ehemaligen Stadtrat Lutz Bernschein:

"Wir schreiben das Jahr 2010. Es ist Winter in Hungen. Der Bürgermeisterwahlkampf ist im vollen Gange. Im Gastraum II der Stadthalle Hungen haben sich viele interessierte Bürger eingefunden, um zu erfahren, mit welchen Themen der Bürgermeisterkandidat die Bürger überzeugen will, dass es in Hungen wieder eine konservative Mehrheit im Stadtparlament geben soll.
Von einem Bürgerhaushalt ist die Rede. Nicht alle Fördermaßnahmen in Anspruch nehmen, sondern abwägen, was sinnvoll und wichtig für eine Daseinsfürsorge ist. Von mehr Bürgerbeteiligung ist die Rede. „Gestalten statt nur Verwalten“ sind ebenso starke Sätze wie „Wir müssen endlich aufhören, immer mehr Schulden anzuhäufen“. Ich sah diesen Kandidat an diesen Abend zum ersten Mal in meinem Leben. Dies war überhaupt nur dem Zufall geschuldet, dass mich ein befreundeter Anwalt und Notar sowie der damaliger Fachbereichsleiter dazu überredet hatten, mit dorthin zu gehen. Beide hatten sie bereits eine Veranstaltung des Bürgermeisterkandidaten verfolgt und waren von den Zukunftsvisionen begeistert.
Ich muss sagen, mir ging es an diesem Abend gleichermaßen. Ich war so von seinen Ideen überzeugt, dass ich gleich am nächsten Tag den Fraktionsvorsitzenden meiner damaligen Partei gebeten hatte mich ins Wahlkampfteam aufzunehmen. Wir machten dann auch gemeinsam mit der Wählervereinigung des BGM-Kandidaten einen hervorragenden Wahlkampf mit dem Ergebnis, dass unser Kandidat im März 2011 mit 64,5 % der Wählerstimmen zum Bürgermeister gewählt wurde. Die bisherigen Mehrheitsverhältnisse im Stadtparlament sollten auch in den darauffolgenden Kommunalwahl der Vergangenheit angehören.
Ich selbst wurde mit einem weiteren Kollegen in den Magistrat entsendet. Damals noch völlig politikunerfahren musste ich mich erst ganz genau mit den Aufgaben des Magistrats auseinandersetzen. Schnell war klar, dass im Magistrat - also hinter verschlossenen Türen die wichtigen Entscheidungen einer Stadt gefällt werden und das Stadtparlament viel zu oft nur für „weniger wichtige Aufgaben der Stadt“ um eine Entscheidung gebeten wird. Trotz allem begann eine für mich sehr spannende und interessante Zeit im Magistrat. Obwohl zu dieser Zeit meine damalige Partei nur mit 9 Sitzen im Stadtparlament vertreten war, konnten wir zum Beispiel erreichen, dass der Dorfladen in Villingen durch einen Förderverein unterstützt wird und nicht die Stadt für etwaige Mietausfälle haften muss. Dieser Dorfladen ist nicht mehr wegzudenken. Mietausfälle gab es bisher auch nicht, da er hervorragend von einer gemeinnützigen GmbH geführt wird. Ebenso konnten wir uns damals erfolgreich gegen Windkraft in der Gemeinde Hungen durchsetzen. Die ersten 5 Jahre haben sehr großen Spaß gemacht und wir hatten eine sehr gute Wahrnehmung in der Bevölkerung.
Dennoch wurden bei der Kommunalwahl 2016 unsere Erfolge nicht honoriert. Die Wählervereinigung des Bürgermeisters gewann nochmals 2 Sitze dazu und meine damalige Partei, die CDU, konnte gerade noch die 9 Sitze halten.
Nach dieser Wahl wurde mir jedoch endgültig klar, dass sich meine Vorstellung von einer Haushaltsführung sich deutlich von der des Bürgermeisters unterscheidet.
Von der angekündigten sparsamen Haushaltspolitik und Bürgernähe, war immer weniger zu erkennen. Die Schlagworte „Klarheit, Offenheit und Transparenz“, die noch im Bürgermeisterwahlkampf groß geschrieben wurden, waren immer weniger spürbar.
2017 war dann wieder Bürgermeisterwahl. Es gab keinen Gegenkandidaten, so wie es auch im Stadtparlament keine wirkliche Opposition gab. Der bisherige Bürgermeister wurde somit mit nur 2.405 Stimmen (das sind weniger als 24% der Hungener Wahlberechtigen) wiedergewählt.
Ab diesem Zeitpunkt wurden nach meinem Eindruck immer häufiger die wichtigen Entscheidungen nur noch im Magistrat getroffen. Immer weniger wurden die Bürger einbezogen. So z.B. auch beim sozialen Wohnungsbau. Im Programm meiner ehemaligen Partei war noch bis vor kurzem zu lesen, dass Hungen „in Verbindung mit einem Investor oder auch mit der Wohnungsbaugenossenschaft Horlofftal e.G. gemeinsam Sozialwohnungen bauen“ soll. Allerdings kam es ganz anders: Der Magistrat empfahl der Stadtverordnetenversammlung den sozialen Wohnungsbau in Eigenregie zu beschließen, was dann auch geschah. Aber Wochen später durften die Stadtverordneten aus der Zeitung lesen, dass es ein 3,9 Millionen Euro Projekt werden wird. Die Förderungen vom Kreis in Höhe von fast 400.000 Euro hätte auch die Wohnbau oder jeder Investor erhalten. Eine Diskussion hierüber fand jedoch in der Öffentlichkeit überhaupt nicht statt. Noch nicht einmal wurde den Stadtverordneten ein Businessplan oder gar eine Machbarkeitsstudie vorgelegt.
Die zurückliegenden Ereignisse bzw. meine gewonnenen Erkenntnisse veranlassten mich damals, dem Magistrat nicht mehr zu folgen, mein Mandat niederzulegen und mein Parteibuch abzugeben.
Seither habe ich die Hungener Politik nur noch aus der Ferne betrachtet.
Als erkennbar wurde, dass immer mehr Bürger mit dem Führungsstil des Bürgermeisters und der daraus resultierenden Kommunalpolitik nicht mehr einverstanden waren, hat sich eine Bürgerinitiative gegründet, die bürgernahe Politik jenseits des Stadtparlaments anstrebt. Nur durch deren Engagement kam ins Rollen, dass die Straßenbeiträge abgeschafft worden sind. Immer mehr hessische Kommunen verzichten auf die Straßenbeiträge, weil es einfach auch logisch erscheint, dass nicht die Anlieger alleine belastet werden für Straßen, die jedermann nutzen kann. In vielen Bundesländern gab es noch nie oder gibt es neuerdings gar keine Straßenbeiträge mehr. Siehe auch Bayern, das erst in der letzten Landtagswahl die Straßenbeiträge per Gesetz abgeschafft hat.
Welch ein Zufall, dass just in der Zeit, in welcher die Bürgerinitiative so erfolgreich außerhalb des Stadtparlaments gearbeitet hat, das Ratsinformationssystem für die Hungener Bürger abgeschaltet wurde. Seit Januar 2020 sind nur noch die Niederschriften für den Bürger sichtbar, aber keine informativen Vorlagen und Begleitinformationen mehr.
Vor einigen Monaten hat sich dann aus der Bürgerinitiative ein Verein gegründet, der bei der Kommunalwahl am 14. März als neue Bürgerliste antritt. Es ist natürlich für diese überparteiliche und sehr bürgernahe Gruppierung außerordentlich schwierig ohne das Ratsinformationssystem an Informationen zu kommen. Der aktuelle Haushaltsentwurf steht nicht im Internet. Sitzungen werden durch Corona bedingt abgesagt und Entscheidungen werden auf Ende März vertagt, wenn die Kommunalwahl bereits stattgefunden hat.
Ohne den Hinweis der neu gegründeten Bürgerliste-Hungen wäre wahrscheinlich keinem Stadtverordneten aufgefallen, dass bereits seit dem 21. Januar dieses Jahres das Projekt „Darmstädter Hof“ nicht mehr weiterverfolgt wird. Auch hier war es so, dass weder die Bürger noch die Stadtverordneten einen Entwurf des Mietvertrages geschweige denn eine Machbarkeitsstudie zu sehen bekamen.
Es dürfte jetzt erst einmal spannend werden, wie sich die Hungener Bürger am 14. März entscheiden werden. Bleibt die bürgerlich konservative Mehrheit bestehen? Oder wird es nach der Wahl einen Politikwechsel geben, der endgültig die Schuldenspirale stoppen wird? Im Jahr 2011 übernahm der Bürgermeister einen Schuldenstand in Höhe von 19 Millionen Euro. Aktuell sind es über 28 Millionen Euro. Wenn man jetzt noch berücksichtigt, dass durch die Hessenkasse und den Schutzschirm die Stadt Hungen in der Zeit von 2013-2017 um 14,5 Millionen Euro Schulden durch das Land Hessen erleichtert worden ist und wenn man weiterhin berücksichtigt, dass der soziale Wohnungsbau, das Hotel am Markt, das Bahnhofsgebäude, die Schäferwagen in Nonnenroth und der Dorfladen in Villingen bereits vor 2 Jahren in die Stadtwerke ausgelagert wurden, so sind hier auch nochmals fast über 5 Millionen Euro Schulden verlagert worden. Den tatsächlichen aktuellen Schuldenstand der Stadtwerke kann man nur vermuten und findet in der Pro- Kopf-Verschuldung keine Berücksichtigung.
Rechnet man gar die Schulden des Zweckverbandes hinzu, dann sitzt Hungen aktuell auf einen gesamten Schuldenberg von über 60 Millionen Euro.
Von daher hoffe ich, als ehemaliger Stadtrat und nun parteiloser Bürger der Stadt Hungen, inständig auf eine starke Opposition und einen Politikwechsel im nächsten Stadtparlament. Es darf kein „weiter so“ geben.
In diesem Zusammenhang möchte ich gerne noch einmal an die Worte unseres heutigen Bürgermeisters erinnern, was er bei seinen Wahlkampfveranstaltungen aus dem Jahr 2010 eingefordert hatte.
• Ein Bürgerhaushalt sollte eingeführt werden
• Nicht alle Fördermaßnahmen sollten in Anspruch genommen werden, sondern es galt abzuwägen, was sinnvoll und wichtig für eine Daseinsfürsorge ist
• Von mehr Bürgerbeteiligung war die Rede sowie von einem Politikstil der „Klarheit, Offenheit und Transparenz“
• „Gestalten statt nur Verwalten“ waren ebenso starke Sätze wie „wir müssen endlich aufhören, immer mehr Schulden anzuhäufen“
Schade nur, dass seine bisherige Politik sich nicht an seinen eigenen ehemaligen Forderungen orientiert. Wir brauchen daher in der Stadt Hungen zukünftig Mehrheiten in Magistrat und Stadtverordnetenversammlung, die solch berechtigten Forderungen auch wirklich umsetzt.
Bitte gehen Sie wählen"
Für den Inhalt verantwortlich: Lutz Bernschein Stadtrat a.D.